Im Nachbarhaus betrieb sein Bruder Ludwig, in einem dunkelgrauen,zerknitterten Kittel, eine Eisenwarenhandlung. Sein meist rotes und derbes Gesicht kontrastierte extrem mit der Erscheinung des eleganten, benachbarten Bruders. Der Eisenwarenladen verfügte über ein gigantisches Angebot! In einem deckenhohen Wandschrank mit vielen kleinen Schubladen fand sich ein schier unermessliches Sortiment an Schrauben, Muttern und Nägeln, die man „fir an Pfeinni“ erwerben konnte. Auch Küchengeräte, Geschirr und Werkzeuge gab es in dem dunklen und langen Laden. Der einzige der immer wusste wo was in dem chaotisch anmutenden Sortiment zu finden war, war Ludwig. Im Gegensatz zu seinem meist fröhlichen Bruder Paul war Ludwig eher verschlossen, einsilbig und mürrisch. Wer bei ihm einkaufte, tat dies meist gegen einen geringen Betrag und musste sich dann auf Kommentare wie „Deijs koschdad an Nickel, bois di it dazoihlst!“ gefasst machen.
Der dritte Bruder war eine ganz andere Erscheinung. Einen Kopf größer als seine Brüder Paul und Ludwig, meist mit einer Kniebundlederhose, einem grünen Janker und einem grauen Hut bekleidet und er machte den Anschein eines Müßiggängers, zumindest war nicht bekannt, was er arbeitete. Vielmehr vermutete man, dass er von den Mieteinnahmen aus seinen ererbten Häusern lebte. Besonders auffällig war, dass sein eigentlich urbayerischer Name Korbinian in der latinisieren Form mit dem Anfangsbuchstaben C, also Corbinian, geschrieben wurde. Corbinian war, das wusste der ganze Ort, homosexuell und aufgrund dieser Orientierung als „warma Bruader“ in Alt-Partenkirchen nicht sonderlich gelitten. Im in der Nähe zu seinem Wohnhaus liegenden Gasthof 3 Mohren gab es immer donnerstags frischen warmen Leberkäs und dies wurde auf einer aufgestellten Tafel mit der Aufschrift „Heute warmer Leberkäse“ am Wirtshauseingang beworben. Die Dorfjugend machte sich regelmäßig einen Spaß daraus, dieses Schild zu stibitzen und vor dem Haus von Corbinian aufzustellen. Während der Nazizeit war Corbinian ins KZ Dachau deportiert und dort über mehrere Jahre schikaniert worden. Wie er einmal erzählte, wurden die homosexuellen Gefangenen dort zum Gaudium der Lageraufseher regelmäßig nackt mit Feuerwehrschläuchen und eiskaltem Wasser abgespritzt. Nach dem Krieg erkannte er zufällig einen seiner Peiniger,der zwischenzeitlich eine Rolle im Amtsgericht Garmisch spielte, wieder auf der Ludwigstrasse und sprach ihn, für die Umgebung gut hörbar, sofort an.
„Natürlich“ dementierte dieser entschlossen, aber für alle Umstehenden sichtbar zunehmend nervöser werdend. Als der Mann Anstalten machte sich zügig zu entfernen, rief Corbinian ihm nach: „Boil Du amoi varreckschd, na scheiss i da aufs Grob - schee dinn, dass oirinnt!“. Der „unschuldige“ Amtmann aber ließ sich umgehend nach München versetzen, wo er besser in die Anonymität abtauchen konnte.
Corbinian war ein sensibler, kunstsinniger und humorvoller Mensch. Mit Leidenschaft widmete er sich der lokalen Volkskunst und sammelte diese mit Hingabe. Eines Tages wurde er zu seinem Onkel gerufen, auch der ein bekannter Sammler. Der alte Herr war von langer Krankheit sehr geschwächt und mit seinem Ableben war praktisch täglich zu rechnen. Corbinian hatte immer gehofft, die gesammelten Kunstgegenstände einmal zu erben und jetzt wies ihn der Onkel an, die gegenüber seinem Bett stehende Vitrine zu öffnen, was der Corbinian mit zitternden Händen und erwartungsvoll machte. Der Onkel starrte mit leeren, schon gebrochenen Augen in die Vitrine und wies seinen Neffen an: „Itz duascht amoi dejs blaue Kannerle aussa!“. Dann „Itz
duascht amoi de oid Monstranz aussa“. Es folgte die Aufforderung, auch das alte Weihwasserbesteck, die Krüge aus Kobaltglas mit der Gravur 1657, die als Überfangglas gearbeiteten Weinkaraffe, die dazu gehörenden Gläser, die antiken, handbemalten Teller der Porzellanmanufaktur Nymphenburg herauszunehmen. Corbinian konnte seine Freude über das anhaltende, sich wiederholende „Itz duascht amoi dejs aussa...“ kaum mehr im Zaum halten.
Dann standen endlich alle Preziosen aus der Vitrine auf dem derben Holztisch. Der Onkel richtete sich mühsam stöhnend auf und betrachtete fast verzweifelt angestrengt seine zu Lebzeiten zusammengestellte Sammlung, ließ sich wieder in die Kissen fallen und raunte mit letzter Kraft: „Itz duaschd das wieda eia!“.
Leberkäse - Ein Werdenfelser Gschichterl von Alexander Möbius (Copyright)
Veröffentlichung 18./19.03.23, Garmisch Partenkirchner Tagblatt / Münchner Merkur, Rubrik Region,
Wochenendausgaben als Serie, Print.