1915 war die damals blutjunge und bildhübsche Nandl aus dem Ludwigtrassen-Untermarkt glücklich verlobt mit dem Waschd, einem humorvollen, draufgängerischen Partakurcha Burschen. Es war die Zeit der großen Not, die Stimmung der Menschen gedrückt und verzagt und während die Be¬sitzenden weiter im Wohlstand lebten, drückte der Hunger den einfachen Bauernstand zunehmend in die Knie. Viele Söhne waren im Krieg, die Inflation warf ihre Schatten voraus, die Preise, auch für minderwertigste Lebensmittel, wurden immer teurer. Die Angst um die Söhne und Männer, die sich bereits im Krieg befanden, trug ein Übriges zur niedergeschlagenen Stimmung der Bevölkerung bei. Dennoch hegten nur die wenigsten Werdenfelser trotz ihrer Not und Ihres Grolls auf die Wohlhabenden „do doam“ revolutionäre, umstürzlerische Gedanken, man fand sich irgendwie in die Zeitenläufte ein. Der Waschd hatte Arbeit z‘Eschla gefunden, wo er bei einem Großbauern arbeitete, weniger gegen Lohn, sondern gegen Lebensmittel. Der lange Radweg nach Eschenlohe schreckte ihn dabei nicht sonderlich. Außerdem war er in Partenkirchen als guter Schütze bekannt und war gelegentlich nachts in den Wäldern am Wank und am Graseck oder im Reintal unterwegs und schoss so manches Wild. Das brachte ihm im Ort eine gewisse Bewunderung ein und das respektvolle „der scheisst se gor nix“ passte perfekt zu seinem immer keck-schief auf seinem Kopf sitzenden Hut mit der Spielhahnfeder und seinem mächtigen männlichen Schnauzbart. Einerseits hoffte er - wie die anderen Werdenfelser auch - auf einen baldigen Frieden, andererseits hatte er Mittel und Wege gefunden sich durch diese harten Notzeiten durchzufretten.

 

Die Verlobung dieses Bilderbuchburschen mit der schönen Nandl aus dem Ludwigstrassen-Untermarkt wurde im Ort fast wie ein, heute würde man sagen, boulevardeskes Event empfunden. Stolz trug der Waschd neben seiner Spielhahnfeder seit dem Tag der Verlobung das vom Nandl gefertigte Herzsträußerl am Hut. Auch die Brauteltern waren mit dem zukünftigen Schwiegersohn sehr einverstanden und erste Hochzeitsvorbereitungen liefen bereits, als der Waschd im Juli 1915 seine Einberufung in das 1. Baierische Schneeschuh-Bataillon erhielt. Die tiefgläubige Nandl bat ihn, be¬vor er ins Feld hinausziehen sollte, an der Vorderseite des elterlichen Kleinbauernhofes in einer dort vorhandenen aber leeren Nische noch eine Schutzfigur der heiligen Maria aufzustellen. Für diesen Zweck lieh man sich beim Nachbarn eine lange Tennenleiter, lehnte diese an das gegen¬überliegende Haus der Nandlfamilie und der Waschd kletterte entschlossen mit der frisch vom Pfarrer geweihten, weißen Porzellanfigur der Schmerzensmutter in der Hand hinauf zur Nische. Wie er gerade dabei war das Glasfenster zur Nische herauszulösen rutschte die Leiter auf dem groben Kopfsteinpflaster der Ludwigstrasse nach rechts weg, der Waschd kam ins Straucheln und stürzte von der Höhe des ersten Stocks rücklings auf den Randstein des Trottoirs. Nach einem stechenden Schmerz in der Lendengegend dachte der Waschd noch, dass er sich wie ein soeben zersprungener Krug anfühlte, dann folgte die Bewusstlosigkeit. Im Krankenhaus erklärte man ihm später, dass er als Folge der beim Sturz von der Leiter erlittenen Verletzungen seines Rückenmarks von den Lendenwirbeln abwärts gelähmt sei und er in seinem restlichen Leben seine Beine nicht mehr benutzen werden könne.


Der schockierte Waschd wollte das lange Jahre nicht einsehen, bis er begriff, dass seine Träume, wieder gehen zu können, nur noch Bilder in seinem Kopf waren, sich die Muskeln seiner Beine aber nicht mehr erinnern konnten, wie Schritte funktionieren. Nach einer langen Phase des immer wieder verzweifelt nach irgendeinem Ausweg Suchens und einer qualvoll langsam wachsenden Einsicht, dass es einen solchen nicht geben und er kein Ganzes mehr werden würde, musste der Waschd seinen „I bin a Krippe“-Zustand notgedrungen akzeptieren. Besonders schmerzvoll war für ihn, dass die Eltern der Nandl nach seinem Unfall auf eine Auflösung der Verlobung drängten und die Tochter diesem Drängen nachgab oder besser nachgeben musste. Geheiratet hat die Nandl allerdings ein Leben lang nicht mehr, obwohl an Verehrern kein Mangel war. Wenn man zukünftig zufällig aufeinander traf, blieb es beiderseits bei einem knappen, scheuen „Griasde“, mehr wusste man sich nicht mehr zu sagen. Nach dem Tod der Eltern hatte sie das kleine Sachl übernommen und lebte später mit ihrer Nichte Kathi, zwei Kühen und einigen Hühnern mehr schlecht als recht. Die weiße Marienfigur, der bei dem Sturz vom Waschd wie durch ein Wunder keinerlei Schaden entstanden war, wurde später noch vor 1916 in der Nische angebracht und verschwand erst bei einem Umbau des Hauses in den Jahren nach 2000.

 

Der Rollstuhltyp vom Waschd war für Soldaten, die im Krieg ihre Beine verloren hatten oder aus anderen Gründen nicht mehr gehen konnten, entwickelt worden. Hohe Lehne, enge Sitzfläche, durch zwei lange Armhebel konnte der Behinderte durch ruderähnliche Bewegungen über eine unter dem Sitz liegende Fahrradkette die Hinterräder des Gefährts vorantreiben. Der Waschd war auch noch in den siebziger Jahren jeden Tag viel mit diesem Gefährt unterwegs und ließ es sich auch nicht nehmen bei Festzügen wie z.B. Fronleichnam oder bei Schützenfesten in festlichem, zum jeweiligen An¬lass im passenden Gewand herausgeputzt mit seinem Rollstuhl mitzurollen. Seine alltägliche Morgenroutine war zum Tabakladen der alten Ulmkes in der unteren Ludwigstrasse zu fahren. Dort „ging immer ein kleiner Hoagart zam“, außerdem liebte er den schweren Duft der vielen unter¬schiedlichen Tabake, die der stets liebenswürdige Herr Ulmke je nach Kundenwunsch zusammen- mixte und auch gekonnt zu dicken Zigarren drehte. Nachdem er seine aus grobem Landtabak („as Pfund a March“) vom alten Tabakmeister gedrehten Stumpen gekauft hatte, führte ihn sein Weg weiter zum Sebastianskircherl, wo er seinen Rollstuhl zwischen den beiden Sitzbänken platzierte und auf seine Spezln wartete. Ab spätestens 10.00 Uhr waren die beiden Bänke am Sebastianskircherl mit lauter älteren Partenkirchner Männern belegt und die Passanten fragten sich ernsthaft, was der illustre Seniorenkreis an diesem seltsamen Stammtisch jeden Tag so wichtiges zum Diskutieren hatte. Der Waschd war immer mittendrin und strahlte, rollstuhlgefesselt oder nicht, stets die Aura eines Wortführers, eines Anführers aus. Statt der frechen Spielhahnfeder und des Herzsträußerls der Vergangenheit krönte jetzt ein mächtiger Gamsbart seinen Hut. Der saß wie immer, draufgängerisch- selbstsicher und leicht schepps über dem mächtigen Schnauzer und den noch immer neugierig funkelnden Augen. So lagen zwischen dem Kleinhäuslerhof der Nandl, in dem sie nach dem Tod ihrer Eltern gemeinsam mit ihrer Nichte Kathi lebte, und ihrem ehemaligen Bräutigam jeden Tag nur knappe 100 Meter - aber doch Welten. Noch immer fühlte sich das Nandl grundlos schuldig an dem grausamen Schicksal des Waschd; die über 60 inzwischen vergangenen Jahre seit dem Unfall hatten daran nichts geändert.
Nachdem man die über 80-jährige Nandl an jenem Morgen von St.Anton ins Partenkirchner Kranken¬haus an der Münchner Straße gebracht hatte, entschied die resolute Oberschwester, dass die stark nach Stall riechende und auch sonst nicht unbedingt gepflegte Alte zunächst warm zu Baden sei - auch um der Unterkühlung der neuen Patientin schnellstmöglich zu begegnen. Das alte Nandl wehrte sich mit allen ihr noch zur Verfügung stehenden Kräften gegen das Ausgezogen werden und als sie endlich nackt im warmen, wohltuenden Wasser der Krankenhausbadewanne saß und von zwei Ordenskrankenschwestern fürsorglich gebadet und gewaschen wurde, entfuhr es ihr empört: “Na… a söllerne Unkeischheit hon i mei Letta it kennt!“.


Doch mit den Tagen im Krankenhaus fand sie Gefallen an dem liebenswürdigen Versorgtwerden durch die Ordensschwestern, ja fing an, dieses richtig zu genießen. Erstmals seit den langen, erduldeten Jahren voller Schuldkomplexe stolperte gelegentlich sogar ein Lächeln zurück in ihr Gesicht. Bei den Schwestern war die neue Patientin ob ihrer Dankbarkeit und Frömmigkeit äußerst beliebt. Dass sie den Ärzten bei deren Morgenvisite zum Dank, zu dem sie sich verpflichtet fühlte, mit glänzenden Augen für die ärztliche Betreuung regelmäßig Kinderlieder vorsang oder Gschichterln erzählte, war Tagesgespräch im Krankenhaus. Auch die Ärzte waren, obwohl sie aufgrund von Nandls Dialekt nur Bruchstücke verstanden, davon gerührt und mochten „ihre“ allerdings als seltsam empfundene „Einheimische“ sehr. Eines Morgens lag das Nandl in ihren schneeweißen Krankenhauslaken und schien zu schlafen Und… sie lächelte! Glücklich. Sie war gegangen, endlich gerettet in einer anderen, sie befreienden Welt.

 

Die Rettung - Ein Werdenfelser Gschichterl von Alexander Möbius (Copyright)

Veröffentlichung 04./05.03.23, Garmisch Partenkirchner Tagblatt / Münchner Merkur, Rubrik Region,
Wochenendausgaben als Serie, Print.