Eines Tages kam der Sohn vomjüngst verstorbenen Nachbarn und brachte dem Reserl einen Fernseher. „Der ischd vom Voda -der brauchtn nimma!“ Reserl zunächst völlig von dieser Neuerung überfordert, gewöhnte sich dann aber an die „Fernsehleit“ die jetzt jeden Abend in ihrer Stubm zu Gast waren und oft musizierten, sie unterhielten und ihr die Illusion  eines Besuchs vermittelten. Das Reserl, zunehmend altersbedingt schon ein wenig verwirrt, konnte mit der Zeit gelegentlich immer weniger unterscheiden ob das nur flimmernde Bilder oder „a richtiger Bsuach“ war. Zur Bettgehenszeit klopfte sie deshalb immer höflich auf die Scheibe des Fernsehers „Hallo-i mecht itz ins Bett geh, gebbs a Ruah“, drückte auf den ihr vom Nachbarssohn gezeigten Knopf und war dann froh allein zu sein. Gelegentlich passierte es auch, dass das Reserl in ihrem Lehnstuhl einschlief während der Fernseher noch lief.

So gingen die Tage dahin, das einsame Reserl genoss vor allem das Einkaufen für ihren bescheidenen Lebensunterhalt wo sie in der nahen Molkerei, beim Metzger oder Beck in Untermarkt noch Nachbarn traf und die Gelegenheit für einen Ratsch fand bevor sie wieder in der Lautlosigkeit ihrer Tagträume versank. Eines nachts war plötzlich alles ganz anders. Mitten in der Nacht stürzte das Reserl verzweifelt um Hilfe schreiend und angstvoll wild gestikulierend in Pantoffeln und im Nachthemd auf die Sonnenbergstrasse hinaus.  Sofort flogen bei den umgebenden Bauernhöfen die Türen auf  und kräftige Männer aus ihrer Nachbarschaft bevölkerten die Sonnenbergstrasse um dem offensichtlich bedrohten Reserl zu helfen. Als erster war der Marxler vom Hof gegenüber bei ihr: „Wos ischd loas Resei?“ Die völlig verstörte, am ganzen Körper zitternde Alte antwortete schwer atmend: „Bei ins in der Stubm ropfen se, zwoa fremde Manner !“ Inzwischen waren auch weitere Nachbarn dazugekommen und ein Trupp von fünf wehrhaften Partakurcha Männern machte sich auf den Weg in Reserls Haus, der Marxler nahm noch sicherheitshalber einen dicken Heustankerstecken mit- man konnte ja nie wissen….

 

In der Stubm zeigte sich zur Erleichterung aller dann aber schnell eine gewaltfreie Lösung. Zunächst einmal: Reserl hatte Recht…es war tatsächlich ein harter Kampf zwischen zwei riesigen schwarzen Athleten zu Gange. Der eine hieß Muhammad Ali, der andere Joe Frazier. Reserl war beim  abendlichen  Fernsehen eingeschlafen  und vom Getöse der nächtlichen Boxübertragung wach geworden. Die Männer schalteten den Fernseher aus, wickelten das immer noch zitternde Reserl in eine schwere, rupfige Wolldecke ein und tranken gemeinsam mit ihr noch einen selbstgebrannten, vom Rapper Schorsch geholten Schnaps. Am nächsten Morgen informierte der Marxler ihren Sohn über die nächtliche Aufregung. Dieser kam sofort mit seiner Gattin aus Mittenwald. Da das Reserl noch immer ein wenig verstört war, entschied man sich zur Sicherheit den Arzt zu rufen. Der wies das Reserl für einige Tag zur Beobachtung ins Partenkirchner Krankenhaus in der Münchner Straße ein. Die Schwiegertochter war darüber besonders erleichtert: “ It dass ma deij damische Oijd no as Haus ozindt!“.

 Die Diagnose des Krankenhauschefarztes Professor  Gros war  ermutigend, er prophezeite, dass das Reserl nach ein paar Tagen Erholung wieder zu Kräften kommen wird und ihr Haus in der Sonnenbergstraße zurückehren könne. Aber dabei machte er die Rechnung ohne dem Reserl…die entschied für sich: „Itz bischd scho  amoi do, itz ischd Dawei, nimm di zam und stirb“. Und in der dritten Nacht im Krankenhaus war es dann so weit, Reserl ließ sich nicht lang bitten und ging schlafend entspannt mit dem sie abholenden, lächelnden Boandlkramer mit.

 

Das Reserl - Ein Werdenfelser Gschichterl von Alexander Möbius (Copyright)

Veröffentlichung 11./12.02.23, Garmisch Partenkirchner Tagblatt / Münchner Merkur, Rubrik Region,
Wochenendausgaben als Serie, Print.