Rätselhafte Schleier und das erste Weltwirtschaftswunder
In Tarquinia taucht man in die, trotz aller archäologischen Forschung und deren modernsten Methoden, in vielen Bereichen noch immer rätselhafte Kultur der Etrusker ein. Wie aus einem rätselhaften Schleier scheint dieses Volk in das Licht der Geschichte getreten zu sein, bis heute ist der Ursprung dieser Menschen nicht eindeutig geklärt. Ihre Sprache ist, von wenigen Worten abgesehen bis heute nicht dechiffriert und weist keine Verwandtschaft mit anderen Sprachen der bekannten antiken Kulturen auf. Aktuell geht die Forschung davon aus, dass es sich um ein von indogermanischen Wurzeln geprägtes, mittelmeerisches Mischvolk handelt, dessen kultureller Höhenflug etwa im 7. Jahrhundert vor Chr. begann und nur rund 500 Jahre überdauerte bis es vom mächtig gewordenen Rom usurpiert wurde. Es scheint sich bei diesen, die erste Hochkultur in Italien begründenden Menschen, um ein recht lebensfrohes Volk gehandelt zu haben, das den Genüssen des irdischen Lebens äußerst zugetan war. Selbst römische Geschichtsschreiber haben sich in Satiren noch Jahrhunderte später über den etruskischen Hang zur Völlerei, ihre Kochkunst und der Leidenschaft für den Wein mit spitzer Feder amüsiert. Römische Dichter wie Catull und Vergil bezeichnen die Etrusker als “…fett beleibt, dem unbegrenzten Luxus hingegeben und als leidenschaftliche Esser, die sich zwei Mal am Tag umfangreiche Mahlzeiten auftischen lassen“. Etruskische Feste müssen offensichtlich ein Maximum an Leckereien (die etruskische Kochkunst galt als berühmt), Luxus und Ausschweifungen aller menschlichen Art gewesen sein. Leisten konnte man sich dies alles, weil die Etrusker als die Väter des ersten Weltwirtschaftswunders bezeichnet werden könnten. Sie kontrollierten den Seehandel, ihre vermutlich größte Einnahmequelle aber war der Erzabbau auf der Insel Elba und dessen Verhüttung.
Musik als Lebenselixier
Das etruskische Leben, auch das Alltagsleben, wurde von Musik dominiert. Praktisch alle einigermaßen bedeutungsvolle Handlungen im Stadt- und Landleben, Ernten und Weinlesen, Gastmähler aller Art waren von Musik und Tanz geprägt. Auch die Begräbnisse! Denn bei aller diesseitigen Alltagsorientierung gab es vermutlich kein antikes Volk das geradezu davon besessen war ständig den Willen der jenseitigen Götter zu erkunden, symbolhafte Zeichen ihrer Gottheiten, vor allem aus der von ihnen geschaffenen Natur mit tiefer Frömmigkeit zu verstehen und zum eigenen Vorteil zu deuten. Hochangesehene Priester versuchten aus Eingeweiden, dem Vogelflug oder den Verlauf von Blitzen den Willen der Himmlischen, der unausweichlichen Macht des alles bestimmenden Schicksals zu deuten und vorherzusagen. Im Prinzip war nichts dem Zufall überlassen, sowohl das diesseitige Leben als auch die jenseitige Existenz war im Detail durch feste Regeln und Zeiträume geordnet, vorbestimmt und in heiligen Büchern aufgezeichnet (sog. „disciplina etrusca“). Nicht nur für das tägliche Leben sondern auch für die überirdische, sehr vielfältige Götterwelt.
Mit den Göttern und dem Tod auf Du und Du
Im gesamten etruskischen Kosmos spielten Götter und Menschen eng zusammen, ergaben ein geradezu pedantisch geordnetes Ganzes. Das Leben nach dem Tode, das Dasein im Jenseits wurde konsequenterweise denn auch als Fortdauer des Diesseitigen verstanden. Der Grabbau versinnbildlichte das Haus des Verstorbenen, die Ausstattung orientierte sich an Gebrauchsgegenständen des Alltäglichen, die Darstellungen von sinnenfrohen Festen gaben/geben eindeutiges Zeugnis, dass die individuelle, menschliche Existenz mit dem Tod nicht beendet ist, sondern quasi lediglich raumversetzt, fortdauert. In der darstellenden Kunst haben die künstlerisch Hochbegabten in wundervollen, bei Kerzen-und Talglichtern gemalten Momentaufnahmen dieses fortdauernde Leben in den Grabkammern dargestellt. Bis jetzt weiß man von etwa 6.000 solcher unterirdischer, in den Fels geschlagenen Gräber, erst ein Teil davon ist ausgegraben und archäologisch untersucht. Etwa 150 der bereits untersuchten Grabkammern sind ausgemalt, einige in der Nekropole Monterozzi bei Tarquinia dem Interessierten zugänglich. Sehr schnell versteht man, dass es sich hier weniger um einen Besuch einer Totenstadt zu handeln scheint, sondern eher um eine unterirdische Pinakothek!
Über steile Treppen geht es hinab unter die Erde und …man ist mitten drin im etruskischen Leben bzw. Sterben!
Da liegen sie nun, seit rund 2.500 Jahren, paarweise auf ihren Klinen, bestgelaunt und von Mundschenken bedient, prosten sich zu, die Musik von Harfen und Flöten schwirrt durch den, dem etruskischen Wohnhaus nachempfunden, Raum. Irgendwie scheint alles von durchsichtigem Licht geprägt, die Bilder an den Wänden zeitlos hingehaucht. Wie das richtige Leben nur ein Hach der Zeiten ist. Keine Spur von Trauer oder verdorbener Lebensfreude.
Musikanten geben ihr Bestes, leidenschaftliche Tänzer springen vergnügt durch den Raum. Plötzlich erhält man eine Ahnung davon, wie der griechische Orpheus es vermocht haben mag, mit seiner Musik selbst Steine zu Tränen gerührt zu haben, eben eigentlich tote Materie wieder zu beleben, deren Erstarrung zu überwinden. In einer anderen Grabkammer zeigt einer der gemütlich-zünftig lagernden Etrusker lächelnd-triumphal ein Ei, das Symbol des Lebens und ebenfalls der Überwindung der Starre durch Lebendes. Die Endgültigkeit scheint hier keine Dauerhaftigkeit zu haben sondern nur eine Übergangsphase zu sein. Ganz so wie die Etrusker das „Tot- Sein“ eben empfunden haben. They ever come back?
Jagd, Sex, Genuss als Lebensprinzip der Toten
Die unmittelbare Verbindung der Etrusker mit der Natur ist in der Tomba della Caccia e Pesca zu erleben. Der Betrachter wird kurzerhand inhaliert in die dargestellten, vital-dynamischen Jagd- und Fischereiszenen. In anderen Tombe der Beweis für ein offensichtlich abwechslungs- und einfallsreiches Sexleben an den Wänden der Grabkammern - von wegen „Kamasutra“-da waren die Rasenna‘, wie sich die Etrusker selber nannten, den einfallsreichen Indern mindestens ebenso kreativ ein paar hundert Jahre voraus…
Im rund 80 km entfernten Orvieto wirkt eine Grabkammer nach heutiger Sichtweise wie ein Gourmettempel. Im, nach seinem Entdecker benannten Golini- Grab sind die Vorbereitungen und das Festmahl eines wohlhabenden, nach heutigem Verständnis durchaus übergewichtig-beleibtem Etruskers, zu bestaunen. Die Darstellungen zeigen einen Blick in die Speisekammer, dort hängen neben einem frisch geschlachteten Ochsen, Wachteln, Hasen, ein Hirschkalb und zwei Enten reifend ab. Daneben ein Blick in die Küche: am Tonofen und an großen Tischen bereiten Sklaven, durchaus an moderne TV-Sendungen erinnernd, das Festmahl vor. Brotteig wird geknetet, Wein in Krügen herangeschleppt. Und, selbstverständlich, das Ganze in Begleitung von Flötenmusik. An der großen Banketttafel lagern neben dem Dicken zwei weitere wichtige Personen: Hades und Persephone, griechische Unterweltgötter- sie geben Zeugnis davon, dass das ganze Gelage in der Unterwelt stattfindet.
Trüffel-Ölung und Totenkuchen
Und sicher könnte auch Maurizio ein Nachfahre der Etrusker sein! Mit seinen knapp 1,65 m Körpergröße und rund 120 kg ist er das geradezu idealtypische Abbild eines Wirtes für eine umbrische Osteria. Am Eingang des sympathisch einfach daherkommenden Lokals in Orvieto prangt ein großes, handgeschriebenes Schild zur klaren Orientierung für Durchschnittstouristen: „ Wir servieren nicht: Pizza, Lasagne, Menu turistico sowie Wein aus Flaschen.“ Diese Ausladung ist genau das Richtige für einen Sinn und Seele eines Gastlandes Suchenden – also rein! Bereits kurz nachdem man auf den besorgniserregenden kleinen Stühlen Platz genommen hat, rollt der Wirt heran, begrüßt jeden der neuen Gäste mit einem Handschlag seiner feisten Pranke, stellt eine Karaffe leuchtend strohgelben Weines auf den Tisch und erklärt sofort, dass hier seine Frau Anna kochen würde. Was heute zur Auswahl steht? Karte gibt es keine. Gott sei Dank…denn jetzt tanzt unser Etruskerwirt mit bisweilen wildem Gestus und wortreich Schallkugeln im Raum verteilend die Delikatessen des Tages vor. In der Tat muten diese ein wenig archaisch-uritalienisch an: die kulinarischen Segnungen des etruskischen Umbriens ? Spontan kommt einem in den Kopf, dass man diese wie vor 2.500 Jahren am Liebsten im Liegen zu sich nehmen würde: in Olivenöl gebackenes Brot mit Trüffelpastete, eine Linsensuppe, Wildtaube aus dem Keramiktopf, Kutteln in Trüffelöl, Schmorbraten vom Esel...Und dann hebt der Fleischberg Maurizio geradezu federleicht- göttlich- ab…nämlich: „ Oggi c` e un occasione eccezionale!“ Er schwärmt von der besonderen Gelegenheit ein „Lombetto sott`olio“ genießen zu dürfen: ein in hauchdünne Scheiben geschnittenes, in Salz mariniertes, rohes Filet vom mit Kastanien und Eicheln gefüttertem Schwein. Das liebevoll und präzise darüber geträufelte Trüffel-Öl zaubert einem tatsächlich Harfen- und Flötenklänge in die Ohren! Auch der Nachtisch hätte jeder Etruskerfete Ehre gemacht: fave di morti - Totenkuchen! Ein süßer Masttraum aus Nüssen, Schokolade und Zuckerguss. Survival Pack für den Trip nach „Drüben“? Dazu ein Rosso aus Torgiano oder ein Goldgelber aus der hiesigen Gegend von Orvieto. Von dem wohlig singenden Maurizio direkt den großen, stolz-geduldigen Holzfässern in der Ecke seiner Locanda entlockt! Ein langer Abend. Voller Genüsse, voller Lachen, Musik, wohliger Glückseligkeit und… voll geheimnisvoller etruskischer Omnipräsenz.
Nackt und wahrhaftig
Am nächsten Morgen dann, nach einem kurzen Fußweg durch einige dunkel-enge Altstadtgassen, plötzlich die vielleicht beeindruckendste Domfassade Italiens : Santa Maria Assunta in Orvieto!Das Morgenlicht scheint ihr eine flüssige goldene Maske zu verleihen, die sich wie Himmelsstaub auf den davorliegenden Platz ergießt. Der ganze Dom ist ein einziges Erzählen von der Schöpfung, vom Entstehen des Bösen und des Guten, testamentarischen Prophezeiungen, Leben und- natürlich - Tod. An Stelle des etruskischen, so natürlichen Zusammenhangs von Leben und Tod, des heiteren Zusammenlebens mit den Göttern und der Natur dominiert jetzt das christliche Weltbild des 14./15. Jahrhunderts mit einem strafenden Gott, mit höllischen Qualen für die Unbotmäßigen, nicht Rechtgläubigen und der Tod wird zu dem, was er in unserer Kultur bis heute geblieben ist: ein Symbol der Angst, des Endes menschlicher Kreatur und der Hoffnung auf eine Auferstehung/ Wiederbelebung. Und diese hat in der Domkappelle San Brizio ein Umbrer oder- vielleicht besser - ein „Spät- Etrusker“ in völlig unvergleichlicher Weise dargestellt! Obwohl Luca Signorelli rund 2000 Jahre nach den unbekannten Meistern der Gräber von Tarquinia in Orvieto dieses unglaublich intensive, apokalyptische Fresko für die Nachwelt schuf, glaubt man - auch wenn dies eine wissenschaftlich in keiner Weise zu rechtfertigende These ist - einen Zusammenhang zwischen diesen zeitlich so weit voneinander entfernten Kulturen erkennen zu können. Das Mensch-Sein wird auf das Wesentliche reduziert, mit dem Stilmittel der Nacktheit. Dieses Gleich-Sein mutet zunächst seltsam- ungewöhnlich für ein katholisch-erzkonservatives Gotteshaus des Mittelalters an, wird aber zum Schlüssel des Verstehens beim Betrachten der Fresken. So oder ähnlich muss es auch dem großen Michelangelo gegangen sein: einer überlieferten Legende nach soll er Signorellis Kapelle besucht haben um sich für die Sistina inspirieren zu lassen und war so von der großen Kunst des Kollegen beeindruckt, dass er weinend auf die Knie gefallen sein soll.
Schwarze Sonne, Roter Mond: das Ende?
Das Meisterwerk entstand zwischen 1499 und 1504 und zeigt die Verführung des Menschen in Person eines Antichristen, dem ein Teufel zynisch seine falschen Botschaften souffliert, umgeben von seinen Versprechungen lauschenden Fehlgeleiteten, darunter Porträts von Personen der Zeitgeschichte wie Cesare Borgia, der in Imponierpose die Arroganz symbolisiert. Ein anderes Fresko des Zyklus erzählt Entsetzliches - unter einem sich blutrot verfärbtem Mond, einer schwarzen Sonne und vom Himmel herabstürzenden Sternen: der Weltuntergang! Die Verdammten versuchen verzweifelt aus dem sie umgebenden, für kein Menschenohr ertragbaren Getöse zu entkommen und stürzen panisch dem Betrachter entgegen, sind von Signorelli, dem Meister der Perspektive, in einer solchen Dynamik und Bewegung gemalt, dass man fürchtet, sie könnten einem jederzeit aus dem Kirchengewölbe vor die Füße fallen. Danteske Inferno-Motive werden dramatisch in Szene gesetzt: der Höllenfährmann Acheron schickt sich gerade an, eine Ladung von Feigen und Trägen über den Unterweltsfluss zu verholen. Ein großes Fresko zeigt das Fürchterliche der Hölle: grüne, menschenähnliche Satane und dämonische Folterknechte stürzen sich auf die Entsetzten, denen die Unausweichlichkeit ihrer Bestimmung in die Gesichter graviert ist. Ihr verzweifeltes Schreien glaubt man deutlich hören, die Schmerzen und Angst der Verfluchten spüren, ihr qualvolles Röcheln durchleiden, den Schweiß- und Todesgestank riechen zu können. Gerade bringt ein geflügelter Höllendämon eine neue Irrgeleitete, um sie in den Schlund der Verdammnis zu stürzen: es ist die gleiche junge Frau, die auf dem Fresko gegenüber für den Antichristen Geld erbettelt hatte.
Frische Luft und junges Volk
Das direkt anschließende Fresko aber ist anders: völlig ruhig, voller unhektischer Gelassenheit, voll frischer Luft. Hier hat die Zeit ihren Vorwärtstrieb verloren. Denn hier…wird auferstanden! Und irgendwie scheint die 2000 Jahre währende Seelenwanderung zwischen den etruskischen Gräbern von Tarquinia zum Ziel gelangt zu sein, der ewige Kreis sich zu schließen: das Leben ist zurückgekehrt! Und wie! Athletische Männer, antiken Heroen gleich, arbeiten sich aus der Erde unter der sie so lange warten mussten, strecken ihre steif gewordenen Glieder. Meist blonde Frauen umarmen sich in unschuldiger Nacktheit, finden die alten Freundinnen wieder. Selbst geflirtet wird schon wieder heftig, lachend und feixend, allerdings … bisweilen noch im Übergangsstadium als Gerippe! Der Tod ist machtlos geworden, hat seinen Stachel verloren.
Überall pure, kraftstrotzende Jugend, faltenlose Alterslosigkeit und ein zaubrisches Leuchten, das scheinbar aus dem Inneren der Figuren strahlt. Wie kräftige Pflanzen wachsen die Körper der Wiederbelebten aus Mutter Erde, in ihren unterschiedlichen Stadien kann der Betrachter ihre jeweilige, persönliche Metamorphose, ihr wieder Lebendigwerden, verfolgen. Vielen der Auferstandenen steht noch eine gewisse Überraschung ins Gesicht geschrieben, noch können Sie die Überwindung ihrer Todeserstarrung kaum begreifen. Man hilft sich gegenseitig aus der „Todespatsche“, reicht Hände, zieht an Armen, unterstützt voll gutem Willen, frei von Hintergedanken oder Kalkül den Mitmenschen. Erste, noch unsichere Schritte werden gewagt, Streck- und Dehnübungen, ein erstes, noch ungläubiges Lächeln. Dankbar sehen die neuen, alten Erdenbürger zum goldstrahlenden Himmel auf, recken ihm ihre Arme dankend entgegen. Dort stehen auf luftigen Wölkchen zwei herkulische Engel-Mannsbilder und blasen die Fanfaren - es ist also tatsächlich so weit: das ewige, sorgen- und schmerzfreie Leben beginnt!
Uns, noch Sterblichen, aber kommt der besorgniserregende Gedanke, dass „die da oben“ Lebendiggewordenen heute Abend aller Wahrscheinlichkeit nach alle bei Maurizio einkehren wollen bzw. werden …und dann wird`s eng in der kleinen Osteria… und außerdem: die bestellen nach der langen Pause sicher alle Lombetto sott´ olio…!