Der Fahrer des alten deutschen Büssing-Busses aus den frühen 50er-Jahren hatte eine spezielle Technik der Gangschaltung entwickelt: er schlug, traumwandlerisch sicher, den langen Ganghebel mit dem Ellenbogen in die jeweils richtige Stellung, beteiligte sich ständig rauchend an den Gesprächsstrudeln die in seinem Bus fröhlich hin und her rollten. Am Wegesrand bisweilen Bauern, den kretisch- schwarzen Fez lässig um die Stirn gewickelt, mit beladenen Eseln- jeder vom Busfahrer mit der sonoren Hupe freundlich gegrüßt. Und Ziegen. Gelegentlich ein Dorf als Ausstiegs- bzw. Zustiegsort. Die rasant- gebirgige, westkretische Landschaft wurde durch abenteuerlich anmutende, nahezu verkehrsfreie Serpentinen, in atemberaubenden Auf und Ab- man muss fast sagen- „überwunden“ und zauberte dem Reisenden bisweilen reliefartige Träume von Zeit und Raum. Und dann nach einigen Stunden: Moni Chrisoskalitissa! Auf einem Felsen, der sich, steil zum Meer abfallend, aus umrankenden Grün mit steinernen Armen dem hellblauen Himmel entgegenreckte, wie eine schneeweiße Krone, seltsam verschachtelt, seit fast 400 Jahren hingebaut, angebaut, umgebaut. Ein Frauenkloster. Nach einer endlos scheinenden Verabschiedungszeremonie durch die Mitreisenden: der Aufstieg zum Klosterportal. 98 Stufen erwarteten den in der umgebenden Einsamkeit Ausgesetzten.
„Chrisoskalitissa“ bedeutet so viel wie „Goldenes Treppchen“. Der Hintergrund: eine Treppe soll aus purem Gold sein und den sicheren Eingang ins Himmelreich ermöglichen. Nachteil dieses Sprungbretts ist allerdings, dass dieses Goldtreppchen nur für Menschen, die ohne jede Sünde sind sichtbar wird. Wie mir später mein Gastgeber verriet, soll es sich gerüchteweise um die 3. Treppe von oben handeln- also sicherheitshalber mal vormerken!


Dyonisos und die Freie

Die nächste Überraschung: die erwartete Äbtissin…war ein Mönch! Mit dem für einen heiligen (sündenfreien ?) Mann geradezu abstrakt anmutendem Namen- Dyonisos. Der Rest des Klosters bestand aus einer einzelnen Nonne. Auch ihr Name, Eleftheria, die „Freie“, schien in einem geradezu absurden Gegensatz zu der klösterlichen Abgeschiedenheit und dem damit verbundenen unablässigen Dienst an Gott zu stehen. Beide um die Mitte /Ende Vierzig, ganz in schwarz gekleidet, auf seiner speckigen Soutane prangte unter seinem dicht wuchernden Bart ein großes, orthodoxes Kreuz. Sofort wurde mir Herberge angeboten und ich durfte das klösterliche Leben für einige Tage mitatmen. Morgens vor Sonnenaufgang schlug Dyonisos temperamentvoll die beiden hellen Glocken zur Morgenandacht mit nachfolgender Liturgie vor tiefgoldenen, von der Morgendämmerung in innigem Farbkuß belebten, byzantinischen Ikonen. Sonstige Anwesende außer dem in wabernden Weihrauchwolken inbrünstig singenden Popen: Eleftheria und ich, Alexandros. Sofern ich durfte, half ich in der täglichen Klosterarbeit mit oder erkundete die fast menschenleere, weil touristisch noch nicht entdeckte Umgebung: das kleine Dörflein Elafonissis, nach weiteren 5 Kilometern grober Schotterstraße Endstation des Linienbusses, die vorgelagerte Insel zu deren wunderbaren Sandstränden man in knietiefem, diamantklarem Wasser wandern konnte. Außer einigen sympathischen Urlaubern aus der Schweiz keine weiteren Xenoi an den ursprünglichen Naturstränden dieses vorgelagerten Eilands, das man sich sofort als Zufluchtsort von zaubrischen Nereiden vorstellte .
Jeden Abend konnte man, vom Klosterdach aus, Helios erschöpft seine Sonnenwagen nach Westen lenken sehen und verstand dabei warum die Menschen so unerschütterlich an die Auferstehung glauben „müssen“. Mit Dyonisos und (!) Eleftheria anschließend lange Abende, an denen er seinem vom Weingott abgeleiteten Namen durchaus gerecht wurde, später hörte man die Beiden, in dem mir nicht zugänglichen Teil des Klosters, laut streiten. „Unter Anderem“… man verstand, dass Menschliches durchaus göttlich sein kann. Oder umgekehrt… Die Frage ob es meinen herzlichen Gastgebern jemals vergönnt sein würde, im kirchlich- orthodoxen Sinn „frei von Sünde“, das goldene Treppchen tatsächlich zu sehen, hatte ich mir nie gestellt: sie machten auf mich den Eindruck glückliche Menschen zu sein.
Und was mehr kann man wollen/ vom Leben erwarten?

In die neue Welt...

Die Entscheidung nach vielen Jahren wieder dorthin zu fahren, fiel nicht leicht, dennoch war die Frage ob der Tourismus auch diese abgeschiedene, ja damals paradiesisch empfundene Gegend, gravierend verändert hat, zu drängend. Die Tatsache, dass in Chania viele Angebote von Tageausflügen per Bus nach Elafonissi , „To the maldive beach of Greece“ unübersehbar waren löste ein erstes, ängstliches Unbehagen aus. Auch verkehrten zusätzlich mehrmals täglich Linienbusse. Der von mir gebuchte moderne Linienbus war weitgehend in der Hand von badelatschigem, Handy- bewehrtem, zwanghaft vor sich hintippendem Touristenvolk. Die Einheimischen waren deutlich in der Unterzahl.
Eine, im kretischen-traditionellem Schwarz gekleidete alte Frau schien vom Zahnarzt zu kommen: mit versteinertem Gesicht presste sie sich ständig ein Bündel frischer Kräuter auf die tiefcanyonfaltige Haut. Der Bus fuhr durch bis nach Elafonissi, aus der einst staubigen Schotterpiste der letzten halben Stunde war eine Betonpiste geworden, in der von der Zeit verwehten Einsamkeit zwischen dem Kloster und dem ehemaligen Dorf,  jetzt Ort, viele neue Häuser die auf weißen Plakaten „Appartments for rent“ hinausschrien. Der neue, große Parkplatz am Ortseingang voll mit Campmobilen und in der Sonne dahinglühenden PKWs. Am einst so einsamen, noch immer rosafarben-herrlichen Strand, waren jetzt unzählige Liegen ausgesät auf denen das Schattenvolk der Touristen in prallem Sonnenlicht rötete. Vor den Kiosken wo Wasser verkauft wurde und den vielen Chemie- Toiletten Warteschlangen. Auch der „Snacks-Hamburger-Pizza“-Pest war von der Brechstange des Dämons Geldgier inzwischen durch die allgegenwärtigen, irgendwie überall gleich aussehenden Verkaufsstände der Weg bereitet. Daneben: „Original cretan food“ und „Iced beer“. In den vergangenen 25 Jahren hatte, verursacht durch den Tourismus und seine gravierenden Folgen für traditionelle Strukturen und Werte, die intuitive Gier nach Mehr und sich ständig vergrößerndem Vermögen also auch dieses Paradies nachhaltig verändert.
Der nächste Weg führte mich voll hoffender Erwartung zum Kloster! Ob Dyonisos und Eleftheria noch da waren? Ich stieg die Treppen hinauf…doch das blaue Eingangstor mit den beiden Holzkreuzen war verschlossen, stattdessen mit einer Tafel versehen wann eine Besichtigung dieser als so heilig- menschliche empfundene Oase möglich ist. Und zu welchem Eintrittspreis. Ein Bauer erklärte mir auf meine Nachfrage hin freundlich, dass inzwischen ein Geschwisterpaar dort wohne und der neue Mönch Nektarinos heiße, den Namen der den Haushalt führenden Schwester kannte er nicht. Was aus „meinem“ Mönchspaar geworden war, konnte er mir nicht sagen.


Der Primat des Profits

Das Wissen darum, dass die Entwicklung in und um Elafonissi bei den gegebenen, touristisch entwickelbaren Ressourcen hier erst an ihrem Anfang steht, erzeugt ängstliches Erschauern. Was wird der Primat des Profits und der schnellen Geldvermehrung in den nächsten 25 Jahren hier noch alles, das Wahre zerstörend, entstehen lassen? Die Hoffnung auf Vermögenszuwachs motiviert die Menschen mehr als das reale Haben, das „Geld machen“ wird zum wesentlichen, dominanten Teil des menschlichen Denkvermögens an sich. Tradiertes Fühlen und Empfinden, Leidenschaften werden zunehmend subordiniert. Doch erst mit diesem Kotau vor dem Materiellen verleiht man dem so Verehrten die eigentliche Macht der Fremdbestimmung über Denken und Handeln.

Und die goldene Treppe? Für solche Fabeln ist in diesem Denken kein Raum mehr, dafür ist der Zusammenstoß der beiden Welten zu radikal und…final! Die Treppe ist heute als weiß gekalkt wahrzunehmen. Aseptisch sauber und aller Träume und Hoffnungen beraubt.