Im Gegensatz zu den vielen anderen Bauernhöfen war alles auf das Notwendige reduziert- keinerlei Blumenschmuck, keine Schnitzereien oder anderes Zierwerk. Die niedere, von einem mächtigen Balken eingerahmte Haustüre vermittelte den deutlichen Eindruck des Nicht- Wilkommen - Seins, schien dies geradezu hinauszuschreien. Auch die sich dahinter öffnende Wohnhöhle barst vor Kargheit und Schmucklosigkeit. In den Fensternischen lagen alte, mit Heu und Stroh gefüllte Wollstrümpfe um dem aus Friedhofsrichtung blasenden Nordwind den Zugang durch die alten, verzogenen Fensterrahmen zu erschweren. Eine derbe Holzbank, ein ebensolcher Tisch und vier wacklige Holzstühle drängten sich unter dem handtellergroßem, nüchternen Kruzifix im Herrgottswinkel. Sonstige Einrichtungsgegenstände? Nur der mit Holz befeuerte, emaillierte Ofen mit Backrohr und Warmwasserwanne. Aus der Raumdecke ein nacktes Kabel mit einer Porzellanfassung und einer nackten Glühbirne. Der ganze Hof, der ganze Raum, scheinbar die ganze Umgebung des Hofes war unter einer scheinbar bleiern- penetranten Gestanksglocke aus dem anschließenden Schweinestall durchdrungen. Die ohnehin seltenen Besucher des Hofes hatten deshalb meist nur den Wunsch einer schnellstmöglichen Absetzbewegung. Dennoch…es war einer der größten Höfe in Partenkirchen, neben den im Ort sonst eher selten gehaltenen Schweinen, standen viele Kühe und selbst zwei Rösser im Stall!

Im Gegensatz zu den anderen, außerhalb der Steinmauer lebenden Bauern hatte der Matthala, wie er mit dem Hausnamen hieß, bisher keine seiner steinigen Äcker, auf denen bestenfalls einmal jährlich Kartoffeln geerntet werden konnten, verkauft. Viele seiner Nachbarn waren im Rahmen des einsetzenden Immobilienbooms der 60er und 70er- Jahre so bereits zu schnellem, leicht verdienten Geld gekommen, hatten sich vom trist-harten Bauernleben zurückgezogen und verdingten sich, meist auf Druck Ihrer Frauen
als Lohnkutscher für Touristen vom Skistadion in die Partnachklamm. Der Matthala aber schien die Zeit festzuhalten und ging gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Söhnen meist mürrisch schweigend seinem Tagwerk nach. Schon immer galten die Matthalas im Ort als Eigenbrötler, ungesellig, freudlos selbst den sonntäglichen Kirchgang meidend. „Er ischd wia da Voda“ sagten die Einheimischen die den Matthala – Großvater noch gekannt hatten. Und das gleiche sagten die jungen Männer am Ort auch vom Erstgeborenen des Matthalas. Dieser hatte einmal die Aufforderung eines Schulkameraden „Sog amoi ebbas!“ mit einem schier ratlosen „Warum na?“ gekontert. Der jüngste Matthala aber schien irgendwie anders! Im Gegensatz zu seinem Vater und älterem Bruder eher teigig, blass, mit einer seltsam hohen Stimme. Manchmal vermittelte er seinem verständnislosen Vater so etwas als würde er die Nähe von Gleichaltrigen suchen. Als der Vater einmal, emotionslos wie immer, vier der sechs am Hof neugeborenen Katzen mit der Mischdbratsch erschlug, weil es halt nur ein paar Katzen am Hof bedurfte, weinte er sogar verzweifelt. „An dem Buam ischd a Malla valorn ganga“ war der ratlose Kommentar des Vaters bevor er dem quiekenden Sohn zur Abhärtung eine Tracht Prügel verabreichte. Alles war im Leben des Matthala auf das Notwendige ausgerichtet, reduziert und konzentriert. Er hatte für sich und damit für seine Familie seine eiserne Lebensregel erkannt:“Deijs brauchts it!“ Dies galt natürlich auch für seine Frau. Die Mari war zweifellos die am ärmlichsten bekleidete Frau von ganz Partakurch und trug tagaus, jahrein immer den gleichen Arbeitskittel- so wie der Bauer und ihre Söhne die grauen, zerschlissenen Janker, die vor Dreck starrenden Hosen und Schuhe, die grünen vielfach durchgeschwitzten Hüte.

Unter Maris Rock lugte immer noch ein früher vielleicht lachsfarbener Unterrock hervor, darunter, über den Rändern der immer getragenen Arbeitsstiefel um ihre krampfadrigen Beine faltig verrutschte Wolltrümpfe. Ihre wirren, schon grau gewordene Haare hatte sie mit einem kleinen, runden Kamm zu einem eigenwilligen Kranz zusammengesteckt. Ihre langen, gelblichen Zähne, die vertrockneten Hände und die ihr anhaftende bestialische Gestanksfahne gaben beredtes Zeichen vom „Deijs brauchts it!“ des Bauern. Sie hatte sich in vielen Ehejahren an das freudlose Leben der Matthalas gewöhnt, war hinter den Steinmauern Teil davon geworden. Wenn sie den Hof verließ, dann nur zum Eikoffn oder andere unvermeidliche Erledigungen. Nie sah man sie bei einem gemütlichen Ratsch auf der Ludwígstrasse oder gar einem Weiberkranzl oder bei einem Hoagart.


Das „Dejs brauchts it!“ lebte zwischenzeitlich auch sie, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Als es darum ging den Austrag zu regeln, überschrieb der Matthala für die Zeit nach seinem Tod seinen Hof an der Ludwigstrasse seinem Erstgeborenem und kaufte kurzerhand einen zweiten Hof der an Größe und Wert seinem ähnlich war. Diesen überschrieb er für spätere Zeiten seinem zweiten Sohn. In der Zwischenzeit war auch dieser auf dem Weg ein Matthala zu werden, auch bei ihm war das „Deijs brauchts it!“ inzwischen zum Lebensmotto geworden. Dabei hatte er sich als Jugendlicher sogar einmal ein Buch gekauft das er verstohlen und vom Vater unbemerkt in seiner Kammer las nicht ohne dem Spott seines älteren Bruders zu entgehen.


Im Gegensatz zu anderen Familien verlief die Übergabe des Sachs bei den Matthalas völlig reibungslos : „ Deijs hod da Voda so doh und mir deans genau a sou!“ Die Söhne wurden verheiratet („ Gnua Sach ischd sei!“) und der Bauer und die Mari gingen klaglos in das seit langem stehende Austragshäusl. Und auf dem Hof begann das Leben scheinbar von vorne! Nur…der Austragsbauer hatte plötzlich etwas was er noch nie hatte: Zeit! Zeit im Überfluss. Das Reden hatte er verlernt, Gefühle zu zeigen nie gelernt. Ins Wirtshaus?“Deijs brauchts it!“ So schnitzte er Dachschindeln aber eben nur so viel wie man unbedingt brauchte, half bei den Söhnen auf deren Höfen, aber eben nur so viel wie diese es zuließen. Er war, und dies war ihm sehr bewusst, nur noch ein Austragler und als solcher hatte er sich in die Rolle einzufügen die er vor 35 Jahren seinem eigenen Vater zugewiesen hatte. Nicht weniger. Nicht mehr.

Die Mari hoffte auf Nachwuchs bei den neuen Matthala- Familien. Vergeblich- „schpahter“ beschied man sie. Mit heimlicher Bewunderung besuchte sie gerne den Hof Ihres Jüngeren, dort tat sich Wundersames! Einem Elektroherd folgte eine Ölheizung, ein Kühlschrank, eine Waschmaschine. Die junge Bäuerin fand sich nur begrenzt in das „Deijs brauchts it!“ ihres Mannes ein und mit Sorge betrachtete die Mari die Schwäche ihres Jüngeren. Wenn der alte Matthala von „am söllern Zuigl“ erfuhr wurde er fuchsteufelswild. Bei seinem Älteren war hingegen alles in Ordnung, der war wie eine Kopie seiner selbst, der Hof war praktisch unverändert, lediglich eine zusätzliche Glühbirne hatte der Sohn installiert. Die Tage vergingen, der Matthala und seine Mari litten unter der vielen verfügbaren Zeit und unter den Ketten, die sie sich selbst das freudlose Leben lang angeschmiedet hatten. An einem warmen Frühlingstag starb der alte Bauer ohne vorher irgendwelche Anzeichen einer Krankheit gehabt zu haben. Für die Mari wurden die Tage jetzt noch unerträglicher, seltsamerweise war ein gemeinsames Schweigen noch besser zu ertragen, als die Einsamkeit.


Die hitzigen Sommertage verflirrten, Mari´s Leben wurde immer zähflüssiger, alles um sie herum schien zu stocken. Allein saß sie auf dem kleinen Bankerl vor dem Austragshäusl und wartete, wartete, dass es endlich dunkel wurde. Jeden Tag. Enkerl gab es noch immer nicht. Endlich kam der Herbst und jedes Jahr, seit sie auf dem Mattala-Hof war, trug vom Zeitenlauf scheinbar unberührt, der mächtige Birnbaum wieder reichlich Früchte. Die Austraglerin folgte ihrer alten Gewohnheit, sammelte das Fallobst, schnitt es zurecht und legte es in die Herbstsonne zum Trocknen aus. Dann saß sie wieder auf ihrem Bankerl, um- geben vom süßen Duft der noch frischen Birnen und dem fast hektischen Treiben der davon angelockten Bienen und Insekten. Sie schüttete ihre leeren und trübsinnigen Gedanken über die in der Sonne schwitzenden, noch weißen Birnenhälften und dachte an nichts, als sie plötzlich ihren gesamten Körper straffend und fast erschrocken hochfuhr. Waren diese Birnen nicht wie ihr Leben? Einst prall und saftig, jetzt am Verdorren? An dem wie die Bienen alle anderen um sie herum ihren Nutzen hatten. Nur….. was hatte die Birne davon? Was hatte sie davon? „Deijs brauchts it, ollawei deijs brauchts it“! „Gheijt hanni nix. A Letta long. Nix wia an Arwat“, zischte es plötzlich zornig aus ihr. Und fast im selben Moment beschloss die Austraglerin Mari: „I bin koa Kletzn it!“und irgendetwas ändern zu wollen in ihrem Leben. Noch wusste sie nicht was, aber ihr Entschluss stand fest. Schon am nächsten Tag ging sie zu dem kleinen Zeitungskiosk vom alten Steidl und verschwendete nach kurzer Pause sechzg Pfeinni für eine bunte Illustrierte. Sie hatte sich nach langem Überlegen für dieses Magazin entschieden, da es das farbigste zu sein schien und weil eine schöne Kaiserin darauf abgebildet war. Fast verstohlen zog sie sich in ihr Austragshäusl zurück und begann, nicht ohne Mühe, zu lesen. Verständnislos las sie von der reichen Titel-Kaiserin aus Persien mit dem gschspassigen Namen und dass diese Ihrem Alten keine Kinder gebären konnte, von Leuten, die mit eigenen Schiffen auf dem Meer herumfuhren, von Sängern und Schauspielern, von einer Olympiade in einer fernen Stadt, von einem neuen Rezept aus der Schweiz, bei dem man Brotbrocken in geschmolzenem Käse eintauchte. Schließlich auch von einer Stadt, die offensichtlich völlig grundlos, mitten in der Wüste gebaut wurde und in der es so viel elektrische bunte Reklame gab, dass die schwarze Wüstennacht zum hellfarbigen Tag wurde. In der die Leute mit dem Leben spielten, den ganzen Tag, die ganze Nacht, völlig Unsinniges, völlig Unnotwendiges tun. Mit Schaudern liest sie, dass man dort Geld und Schicksal mit Glücksspiel riskiert. „A so eppas koh doch it sei, des geihts doch gar it, dass so eppas geiht“. Aber die Buidlan…. In dieser Nacht findet die Mari keinen Schlaf – die Kaiserin, die Kassuppn, Las Vegas ….. „des söllene Zuigl macht mi no narrat ou!“

Die nächsten Tage fiebert sie immer wieder durch die bunten Bilder der Illustrierten und stellt dann befriedigt fest, dass sie das dafür ausgegebene Geld „it ruit“. Einige Tage später sieht man sie an der Marien-Apotheke den Ortsbus besteigen: „Heint fohr i z`Garmisch gia eikoffn, do kennt mi koana.“

Als sie am Abend ihre Schwiegertochter keifen hört, weil sich „die spinnate Oide a nuichs Gwand und nuiche Schua kofft hat“ und der junge Matthala-Bauer ihr Tun mit einem wütend-ratlosen „ja Muada, wos tuascht it ois. Deijs brauchts do gar it!“ kommentiert, weiß sie sich auf dem richtigen Weg. Im folgenden Winter beschließt sie „I giah mei Letta lang in koan Stoi nimma“, kauft sich gar ein Radio und hört mit wachsender Neugier, was da draußen in der Welt passiert. Immer seltener verlässt sie ihren Austrag, nur einmal fuhr sie mit dem Zug in die große Stadt nach München. Schwiegertochter und auch Sohn schelten sie deshalb eine Verrückte, die „nur s`Geld vertrogt“. Außerdem sei sie zu einer Träumerin verkommen. „Recht ham sie, aggrad des wui i. I draam ma nuichane Woit zaam.“

Im Ort begann das Gerede über sie. Vor allem im Untermarkt: „Habts es gseijchn, die Dame. Neili hot´s gor beim Nagel im Obermarkt doam an Lippenstift kofft.“ Das war Ortsgespräch. Der Mari waren die Leute früher wurscht und jetzt auch. Sie fühlte sich so frisch und adrett wie nie in ihrem Leben und man hatte tatsächlich den Eindruck, dass sie mit dem früher stets umgebenden Stallgestank auch das alte Leben hinter sich gelassen hatte. Es blieb nicht aus, dass sich das Verhältnis zu ihren Söhnen, vor allem dem Erstgeborenen und insbesondere zu den Schwiegertöchtern zunehmend spannte. Diese fürchteten, dass die plötzlich außer Kontrolle geratene Alte „no des ganze Geid vo inserer Erbschaft vertrogt“.


Eines Tages aber war die Mari plötzlich verschwunden. Der Unterer Kare, der bei der Bahn beschäftigt war, hatte sie noch den Zug nach München besteigen sehen. Als die Matthala- Austragerlin aber auch nach drei Tagen noch nicht zurück war, schaltete sich die örtliche Polizei ein. Die Nachforschungen des dicken und tumben Ortspolizisten Häusler ergaben aber lediglich, dass die Mari am Tag ihres Verschwindens ihr gesamtes Angespartes und ihr Erbteil von der Sparkasse abgehoben hatte. Die Kriminaler fanden einige Tage später auch noch heraus, dass sie sich noch vor einigen Wochen in dem nahen Fotogeschäft ein Passbild hatte machen und beim Einwohnermeldeamt einen Pass hatte ausstellen lassen. Nach gut einem Monat erfuhr man noch, dass die Kriminaler in München ermitteln konnten, dass die Matthala-Austraglerin eine Flugreise von München-Riem über Glasgow nach New York gebucht hatte. Dort verlor sich ihr Spur für immer.

 

Robert Moser - Ein Werdenfelser Gschichterl von Alexander Möbius (Copyright)

Veröffentlichung 01./02.04.23 und 08./09.10,04.23, Garmisch Partenkirchner Tagblatt / Münchner Merkur, Rubrik Region,
Wochenendausgaben als Serie, Print.