Drei Monate später zog die Familie in das neue Haus in Garmisch in der Klammstrasse um. Besonders für die Kinder und Jugendlichen war der Umzug eine Herausforderung, da die einheimischen Schulkameraden „den Fremden“ zunächst ablehnend gegenüberstanden. Robert Moser war ein eleganter, charmanter Mann, der aufgrund seiner Bildung und seines außerordentlichen spontanen Humors sehr bald in den gehobenen Kreisen des Ortes Aufnahme fand und dort sehr willkommen war. Seine Frau Magdalena fand durch ihre stets freundliche und hilfsbereite Art ebenfalls schnell Anschluss. Im Herbst 1912 erblickte ein weiterer Sohn das Licht der Welt. Der Wohlstand der Familie allerdings war endlich - im 1. Weltkrieg und den folgenden Jahren litt die Familie wie fast alle Bewohner an der entstehenden Lebensmittelknappheit und Vater und Mutter Moser hatten schwer zu kämpfen, die Kinderschar und sich selbst vor Unterernährung zu beschützen. Mutter Moser kochte aus dem wenig Verfügbaren immer wieder phantasiereiche und dennoch sättigende Gerichte, wie z.B. Fingernudeln aus Mehl, Salz und Wasser die mit Sauerkraut genossen besonders sättigend waren und deshalb „Bauchstecherl“ genannt wurden. Die Familie war streng katholisch und ein häufiger Kirchgang bei dem oft für ein Ende der Hungerszeit gebetet wurde war selbstverständlich. Zudem war der Vater Robert gut mit dem sog. „heiligen Rat“ der lokalen Kirche befreundet und engagierte sich, wo er konnte, sozial. Da er als begnadeter Geschichtenerzähler galt, erzählte er zum Beispiel den hungernden Kindern des Ortes mit komödiantischen Gesten regelmäßig mitreißende Abenteuergeschichten, die halfen das Knurren der leeren Mägen wenigstens für einige Zeit durch Erstaunen und Lachen zu ersetzen. Die Kinder liefen scharenweise in das, wie sie es nannten „Moser-Theater“.


Eines Abends kehrte seine Frau völlig in Tränen aufgelöst und zitternd am ganzen Körper aus der Kirche nach Hause zurück und es dauerte über eine Stunde bis sie sich aus ihrem Schockzustand befreien und wieder fassen konnte, um zu erzählen was ihr widerfahren war. Sie war bei einem neuen, jungen Kaplan bei der Beichte und gestand im Beichtstuhl, dass sie und ihr Mann verhütet hatten um die Hungermisere der 6 Kinder durch ein weiteres Geschwisterl nicht noch weiter zu verschärfen. Der junge Kaplan hielt der sechsfachen Mutter daraufhin eine Standpauke und verweigerte wegen dieser „Todsünde“ auch die Absolution. Robert Moser nahm seine Frau in den Arm, strich ihr zart über den Kopf und stand dann auf, nahm seinen Hut vom Haken an der Türe und verließ wortlos das Haus. Seine Frau und die sich um sie scharenden besorgten Kinder blieben, verunsichert von dem ungewohnt finster-entschlossenem Blick des Vaters, beunruhigt zurück.

 

Sein Schritt führte ihn direkt in die Abendmesse in der alten Kirche in Garmisch, dort angekommen nahm er seinen Hut ab, bekreuzigte sich und ging geradewegs zur Kanzel auf der der junge Kaplan dabei war seine Predigt zu halten. „Zu Eahna wuillt i !“ donnerte der alte Moser mit einem harten Fingerzeig zum Erstaunen der braven Kirchgänger los. „Wos moana denn sie wer oder was sie san? Wos Bsunders? Nur weils a Pfaffenkutten trogn? Sie Gfrast san a Schand für an jeden Christenmenschen! I frog eahna a ned wos sie mit eahnerer Kathl machen, dass koa Kind vo eahna kriagt!“. Da ahnte die ganze Kirchengemeinde, vermutlich aus ähnlich gemachten Erfahrungen, was vorgefallen war und die Stimmung wandte sich murmelnd-fühlbar gegen den ungeliebten, fanatischen Kirchenmann. Als dieser pastoral die Arme ausbreitete und von der Kanzel das Wort ergreifen wollte, herrschte ihn der Moser an: “ Hoitens eahna verdorbene Pappen und schleichens eahna aus unserer Kirch, sie Kerzenfresser! Und zwar sofort! So was Bösartiges wia eahna brauch ma hier ned - mir san nimmer im Zeitalter der Hexenverbrennung und die Kirch richt koane Scheiterhaufen mehr auf!“. Das beifällige Gemurmel der Anwesenden bewog den jungen Kaplan dazu verschüchtert und langsam von der Kanzel zu steigen. „Ja werds oder wartst, dass da a poor Engelsflügerl wachsen? Schleich di!“. Der Kaplan verließ daraufhin zügiger den Kirchenraum. Natürlich war dieser Vorfall an den nächsten Tagen Ortsgespräch.

Den jungen Kaplan sah man nicht mehr im Ort. Wie gerüchteweise verlautete, wurde er in ein Kloster nach Franken versetzt.

 

Robert Moser - Ein Werdenfelser Gschichterl von Alexander Möbius (Copyright)

Veröffentlichung 11./12.03.23, Garmisch Partenkirchner Tagblatt / Münchner Merkur, Rubrik Region,
Wochenendausgaben als Serie, Print.