Diese scheinen überall, fernab aller Zeiten, geradezu zauberisch gleich geblieben zu sein. Dunkle Gassen, kleine Brücken mit bedeutungsvollen Namen wie “Ponte Paradiso“. Na ja… bescheiden waren die Veneziani noch nie. Plötzlich spuckt mich eine Calle auf einen sich schlundartig öffnenden Campo, rüpelt mich, beidarmig stoßend, ins grelle Tageslicht. Vor mir protzt sich ein Riesenkerl auf: der wortgewaltige Nicolo Tommaseo. Noch fast lichtblind entziffere ich meine Ankunft am Campo San Stefano. An die roten und gelben Palastfassaden der umgebenden Patrizierhäuser brandet, luce alta, das einflutende Sonnenlicht, eine tiefe, selbstherrliche Ruhe, wie nach einem Sturm, lastet federleicht auf dem ganzen Platz. Vom istrischen Marmor wie mit einer blendenden Brandungsgischt strahlend zurückgeworfen. Und kein „Gondola- Gondola“-Rio umfließt angenehmerweise den Campo. Auch hier ist es wie so oft in der Serenissima: in vielen anderen Städten hat man den Eindruck, die Plätze sind um und für das zentrale Denkmal geschaffen - hier ist es anders: die in Bronze gegossenen, vermeintlich Wichtigen, sind lediglich geduldet. Ausnahme der Regel ist  der Campo San Bartolomeo der seinem pfiffig-schmunzelnden Spaziergänger Carlo Goldoni huldigend zu Füßen liegt. Aber wer ist schon dieser marmorne Tommaseo?

Touristen? Kaum.
Vor einem Café leere Stuhlreihen, also ein Capuccino in der ersten Reihe, Königsloge, Platz in der Sonne. In unmittelbarer Nähe zu dem weißen, grüblerischen  Marmormonster nehme ich erst jetzt eine versunken vor sich hin-tanzende, nicht mehr ganz junge Frau wahr. Mit einem bunten langen Band zaubert sie fliegende Schlangen, energische Striche, in sich verkantete Dreiecke und asiatische Schriftzeichen lautlos in den blauen Himmel und vor die bunten Häuserfassaden. Auf den ersten Blick wirkt dies sehr meditativ, aber das vor ihr liegende Käppi hält um Anerkennung und Lohn gähnend die runde Hand auf. Vermutlich geht es also weniger um träumerische Meditation als mehr um ein paar Münzen, von denen sie sich und ihrem alten, neben Niccolo Tommaseo erschöpft schlafenden Hund, etwas Essbares kaufen will. Dann legt sie das bunte Schlangenband beiseite und versucht durch rhythmisches Schwingen zweier roter Fahnen ihr Geschäft zu beleben. Die Dame dürfte gut 40 sein, durch ihren etwas dunkleren Teint und ihre elegante, sambaige Bewegung verorte ich sie kurzerhand als aus Südamerika stammend. Unter den dünnen, windwendischen Fahnen tanzen ihre Beine himmelsschwirrig und bachstelzig. Ist mir zumindest 2 Euro wert - hätte ich ihr mich beim Münzeinwurf in das Che Guevara-Käppi streifendes kurzes Lächeln geahnt, wär es mehr geworden! Außer mir und vermutlich Tommaseo scheint sie niemand am Campo richtig wahrzunehmen. Der alte, ergraute Hund wacht durch das rote Fahnengeknatter auf und vergrunzt ihr zärtlich-heiser seine immer noch-Anwesenheit. Wenigstens einige kleine Kinder lassen sich von der durchaus seltsamen Darbietung beeindrucken. Aber nur kurz, dann werden wieder Tauben gejagt, ist eben doch abwechslungsreicher. Mir maulwurft die Novembersonne angenehm durch meine Gedankenspiele

Eine Gruppe jüdischer Touristenmumien folgt einer roten Schirm-Knirpsin. Die aufgestellte Mütze bleibt unbeachtet. Der Fahnenschwingerin reicht es jetzt: sie packt ein, spricht mit ihrem Hund: bad business today. Steht auf und geht, ihren Rucksack lässt sie liegen, scheinbar soll der den senilen Hund bewachen?

Vielleicht ist sie ja gar keine Südamerikanerin, sondern arabische Salafistin und gleich geht die Bombe hoch? Nach wenigen Minuten aber kommt sie wieder und teilt mit ihrem vierbeinigen, mit letzter Kraft und müde schwanzwedelnd, schmachtend bettelnden Begleiter ein Pannino imbotitto. Wo sie wohl heute Nacht schlafen wird? Wo kommt sie her? Wo will sie hin? Dann: Pullover an, Ende der Vorstellung. Schade. Sie setzt sich auf ihren Rucksack und raucht eine zuvor selbst gedrehte Zigarette, geradezu majestätisch, scheinbar auf Alles und Nichts wartend und offensichtlich Gedankenschatten dem steinernen Tommaseo in seinen imposanten Rauschbart flechtend. Dabei entgeht ihr, dass gerade die Machtverhältnisse auf dem  Campo wieder ins Lot gerückt werden! Denn… der Platzeigentümer persönlich erscheint in voller Größe und Selbstherrlichkeit. Provozierend langsam schiebt sich ein roter Kater diagonal  über den Campo - die Hunde entscheiden sich für ein devotes „ich bin nicht da“, die Tauben nimmt ER gar nicht erst zur Kenntnis, die lästigen Zweibeiner werden nachsichtig aber mit unverhohlener Antipathie geduldet. Einen Moment habe ich die kurze Sorge er könnte vielleicht doch den alten Hund meiner Südamerikanerin frühstücken… aber, grazie a dio, er lässt Gnade walten.

Und sie? Sitzt einfach nur da.
Wenn ich mich trauen würde, würde ich sie jetzt gerne auf einen Capuccino einladen. Entscheide mich deshalb sie ab jetzt „Capuccina“ zu nennen. Am Nebentisch der inzwischen sehr gut besuchten Cafeteria ein pausenlos quatschender Österreicher, praktisch jeder Satz beinhaltet die Phrase „…gaaanz  läähssig“. Das wäre ich jetzt auch gern! Soll ich einfach zu ihr hingehen und sie auf einen Capuccio und eine Zigarette einladen?

Mich mit ihr freundlich unterhalten? In meinem Alter? Und… warum mach ich`s eigentlich nicht? Angst davor „falsch verstanden zu werden“ und einen Korb zu kriegen? Was denkt die inzwischen gefüllte Café-Terrasse, wenn ich jetzt einfach aufstehe, die 10 bis 15 Meter zu ihr hin gehe und sie anspreche?

Wenn Capuccina mir eine Absage erteilen würde und ich allein zu meinem Tisch spießruten müsste? Ich hör sie schon: “Was erlaubt sich der alte Bock?“ „So ein unverschämter Macho“ und „Die hat ihn aber sauber ablaufen lassen“.


Und was reden die erst, wenn sie mitkäme. „ Was ist denn das für eine? Geht gleich mit dem erstbesten Typen mit!“ und „so eine Schlampe!“.
Verdammte Erziehungsketten die da durch mein Denken rasseln! Kann mir doch eigentlich völlig egal sein, was die da alle reden könnten! In mir: Ali versus Frazier - ein wilder, bisweilen ruppig-harter Schlagabtausch …soll ich…soll ich nicht? Alle Argumente werden in meinem Hirn-Ring schmerzvoll ausgetauscht. Ende leider unentschieden: ich bin einfach zu feige. Cappuccina und Hund  sitzen noch immer bewegungslos da. Und ich? Zahle und gehe… addio Capuccina!!